Kurt-Hackenberg-Preis 2020
In diesem Jahr hat die Jury den Preis für politisches Theater Futur3 und Analogtheater zu gleichen Teilen zugesprochen. Beide beschäftigen sich auf höchst unterschiedliche Weise mit dem Aufstieg und Fall des Dritten Reiches.
Trotz und wegen der Vielzahl von Gedenktagen und -jahren, die unaufhaltsam über uns hinwegziehen, kann es manchmal scheinen, dass wichtige Themen, die in unsere Gegenwart hineinwirken, unter dem Druck aktueller Geschehnisse zu kurz kommen. Das könnte auf die – selbstverständlich dokumentierte und zelebrierte – Erinnerung an zwei komplex verbundene Ereignisse zutreffen: das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren und vor 30 Jahren den Fall der Berliner Mauer als Auftakt der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Und zwar deshalb, weil das »Gedenkjahr« in eine Zeit fällt, in der weltweit die Sehnsucht nach starken Führern, nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen, ein über das Internet grassierendes Angebot von Verschwörungsmythen und ein Misstrauen in die beschwerlichen Prozesse der repräsentativen Demokratie um sich greifen.
Die Jury des Kurt-Hackenberg-Preises für politisches Theater sah sich am Ende zwei Produktionen gegenüber, die sich auf höchst unterschiedliche Weise und auf gleichermaßen hohem Niveau annähern an den Aufstieg und Fall des sogenannten Dritten Reiches, das mit seiner Kernschmelze zwei neue deutsche Staaten erzeugt hat, die inzwischen wieder vereinigt, aber nicht wirklich eins geworden sind: »1934 – Stimmen« von Futur3 und »Geister ungesehen« vom Analogtheater. Die beide die so nicht mehr vermutete Nähe dieser Vergangenheit beschwören und damit Fragen an uns stellen.
Futur 3 hat sich mit einer Aufsatz- und Materialsammlung des amerikanischen Soziologen Theodore Abel ein einzigartiges Zeitzeugnis vorgenommen. Abel hatte 1934 – mit Unterstützung des NS-Propagandaministeriums – in Deutschland ein Preisausschreiben gestartet, um authentische Selbstzeugnisse von »ganz normalen« NationalsozialistInnen der ersten Stunde zu bekommen. Es wurden fast 700 Texte eingesandt.
Das Theater betrachtet und filtert diese Texte mit demselben Ziel wie Abel, nämlich Gründe und Motive der frühen NS-Anhänger*innen zu verstehen – jetzt aber aus der Rückschau und mit dem Wissen um nationalistische und völkische Tendenzen in unseren Tagen. In den Gewölbekellern und Fluren des EL-DE-Hauses am Appellhofplatz (heute NS-Dokumentationszentrum) werden unter der Gesamtregie von André Erlen die Corona-bedingt vereinzelten Besucher auf einen spukhaft düsteren Parcours geschickt. Eine Nazisse, die darunter leidet, kein Mann zu sein, weil sie dann nämlich kämpfen könnte; eine andere, die sich sinnlich vor der Vision eines uniformierten Männlichkeitsidols räkelt; Kinder, die sich (mit den Worten ihrer Eltern) gegenseitig aufklären, wie »die Juden« das öffentliche Leben beherrschen; ein sichtbar von der Straße in die Szene hinein telefonierender Mann, der das Damals wie beiläufig mit dem Heute verbindet. Das Ganze mit besonderem Augenmerk auf die (im Ausgangsmaterial – natürlich? - unterrepräsentierten Frauen. Kleine Szenen, Ton- und Bildinstallationen. Reminiszenzen aus einer Zeit, die nicht verschwinden will.
Am anderen Ende des katastrophischen Reiches setzt Daniel Schüßler mit seinem Analogtheater an. Beim Massenselbstmord von Demmin, einer Kleinstadt in Vorpommern, einem von vielen ähnlichen Ereignissen in den letzten Tagen von Hitler-Deutschland. Viele hunderte, vielleicht über tausend Menschen brachten Ende April/Anfang Mai 1945 sich und ihre Kinder innerhalb weniger Tage um. Angst vor den heranrückenden sowjetischen Truppen, Verzweiflung über den Zusammenbruch der großdeutschen Reichsphantasie und vielleicht bis zuletzt geglaubter Sicherheiten, Schuldgefühle wegen eigener Verstrickung ins Geschehene? Die drei SchauspielerInnen erzählen, weithin unter eigenem Namen, was in Erzählungen oder Andeutungen von Eltern, Großeltern etc. auf sie gekommen ist über das Massaker von Demmin, über die Vernichtung des benachbarten Dargun, über die Flucht aus Ostpreußen. Dabei scheint das nicht Gesagte oft wichtiger als das Gesagte, weil unheimlich.
Schüßler zeichnet auf einer kargen dunklen Bühne – im Zentrum ein großer in den Hintergrund (und die Vergangenheit?) führender Schlauchtunnel – eine Spurensuche in einer bekannten und doch ungewissen Geschichte nach. Oben zeigen Filmsequenzen Bilder aus dem Demmin von heute. Eine Kleinstadt-Tristesse, in der man in der DDR Zeugnisse der NS-Vergangenheit und in der Nach-Wende-Zeit solche der DDR-Vergangenheit beseitigte. Symbolisch Filmszenen mit dem »Analog Theater Heimat-, Schuld- und Sühne-Chor«, vielleicht auf der Flucht, vielleicht auf der Suche nach Relikten des Geschehenen. Über allem, unsichtbar, aber spürbar, wie ein drohend schwebender Fels, das furchtbare Kollektivereignis von 1945 mit allem, was daran hängt. Wie viel Gegenwart kann nicht vergehende Vergangenheit verhindern? Ein konzentriertes Raum-Bilder-Sprechtheater mit vielen Facetten. Ein neuer Stil auch beim Analog-Theater.
Die Jury hat sich angesichts dieser beiden so eindrücklich korrespondierenden Arbeiten erst nicht entscheiden können – und dann nicht entscheiden wollen. Sie hat den Kurt-Hackenberg-Preis für politisches Theater in Köln Futur3 und Analogtheater zusammen, das heißt zu gleichen Teilen zugesprochen. Eine Verneigung vor den Fremdenführern ins nicht vergehen Wollende.
Dirk H. Fröse für die Jury des Kurt-Hackenberg-Preises für politisches Theater